4. November 2013

Idyllenpracht

Alle paar Monate verschlägt es mich in einer Stadt, von dessen ich nur noch schemenhafte Erinnerungen aus meiner Kindheit besitze. Ich habe mich nie richtig mit ihr anfreunden können, dennoch empfinde ich es als ganz nett, hin und wieder mal vorbeizuschauen. Natürlich nur kurz und knapp, auf den Wege zu Verwandten oder Freunden...

Der Regionalexpress steht schon startklar am Gleis. Das ist aber auch das Mindeste, wenn man schon mit den Schienenersatzverkehr durch halbe Wälder am Rande Berlins tuckern muss.
Ich steige ein und finde eine freie 4er Ecke, wo ich mich gemütlich ausbreiten kann. Kaffee links auf den kleinen Tisch, Buch rechts. Neben mir meine Tasche, und das vorher gekaufte Blümchen lege ich auf den gegenüberliegenden Sitz.
Ich fahre sehr gerne Zug. Entweder vertiefe ich mich in einem Buch und lasse mich von den monotonen Bahngeräuschen im Hintergrund berieseln, oder ich stöpsele mich an meinen MP3-Player und genieße die dahin schwindene Umgebung bei entspannter Musik, und lasse meine Gedanken freien Lauf.
Da gerade der Himmel nicht blauer und die Sonne nicht strahlender sein kann, entscheide ich mich für zweitens.
Viel zu schenll ertönt mein Ausstiegsort, und ehe ich mich versehen kann, steh ich schon draußen und der Zug rollt weilter.
Ich gehe los und genieße die Sonne. Kein Auto ist zu sehen, nur eine ältere Dame fürht ihren Hund gassi. Ich schaue auf die Handyuhr und stelle fest, dass ich noch viel zu viel Zeit habe, wie untypisch für mich.
Ich entscheide mich für einen Umweg, und gehe bewusst langsamer, wie jemand, der einen kleinen netten Spaziergang macht, so wie die drei älteren Herren vor mir.
Mir fällt ein, dass heute Feiertag, und dieser Ort deshalb so herrlich ruhig und entspannend ist. Ich Großstadtfrau kann gar nicht anders, als mich anzupassen.
Ich schaue mir meine Umgebung an. Rechts von mir reihen sich kleine, flache Häuschen aneinander, jeder Vorgarten individuell bestückt. Die Sonne steht weit oben und lässt den Herbst wie einen Frühling erscheinen. Die bunten Blätter der vereinzelten Bäumchen bekommen einen goldenen Schimmer, die wenigen grinsenden Gartenfiguren scheinen lebendig geworden zu sein und die Katzen und Hunde in den kleinen Gärten scheren sich um nichts, sondern liegen nur faul herum. Ich muss lächeln, und frage mich, wann ich wohl zuletzt so etwas begegnet bin.
Gerade noch im stürmischen, mürrischen Berlin gewesen, und nun steh ich hier in einer Gegend, wie man sie nur aus einem Buch oder von einem Bild her kennt. So absurd, geht es mir durch den Kopf.
Ich seufze tief, denn ich bin völlig berauscht. Denn hier steht gerade die Zeit still. Kein Lüftchen weht, kein Blatt rührt sich, kein Auto ist zu hören, kein Mensch zu sehen. Ich traue mich nicht zu atmen, denn ich möchte nicht diese herrliche Stille stören. Langsam gehe ich weiter und sauge wie ein Schwamm, mit jedem Schritt, diesen Moment auf, diesen perfekten Moment, der einen innerlich lächeln lässt. Dafür lebe ich, genau für solche Momente, die so selten und kostbar sind, und so schön, dass es einen glatt von den Füßen reißt, wenn man nicht aufpasst.
Ich laufe weiter und biege links in die Straße ein, wo ich bis zu meinen zweiten Lebensjahr gewohnt habe. Ich bleibe bei dem Haus stehen, wo ich wahrscheinlich laufen und teilweise sprechen lernte. Mittlerweile hat es einen schönen, weißen Anstrich, einen gepflegten Garten und wahrscheinlich liebevolle Besitzer. Ich habe nur eine einzige Erinnerung an diesem Haus, und die ist eher grau und staubig.
Ich setze meinen Weg fort und schaue mir die daneben liegenden Häuser an. Vereinzelt alte Menschen, die im Hausinneren oder im Garten herum laufen. Man könnte meinen, die Stadt ist alt geworden, so wie ich älter geworden bin. Ich komme an dem Schokoladendachhaus vorbei, und partout schwöre ich die nächste Szene aus meiner Kindheit herauf. Irgendein Sommer, meine Bruder und ich fahren mit einem Roller die Straße rauf und runter. Wir haben Ferien und verbringen einige Tage bei unseren Großeltern. Schon damals hielten wir oft vor diesem Haus, dessen braunes Dach so schmackhaft in der Sonne glänzte, dass man denken könnte, es bestehe aus purer Schokolade. Und so haben wir es auch getauft, das Schokoladendachhaus. Ich muss wieder lächeln, wie lange das schon her ist, bestimmt knapp 20 Jahre. Und noch immer sieht es wie reine, flüssige Schokalde aus, wenn die pralle Sonne drauf scheint.
Nur noch wenige Häuser bis zu meinem Ziel.
Beflügelt gehe ich langsam am nächsten Haus vorbei und halte inne. Ich erkenne einen alten Mann mit grauen Haaren und Brille im Hausinneren wieder, der ausdruckslos, aber irgendwie friedvoll, an einem Tisch sitzt. Sein Blick ist leicht nach links geneigt, und ich frage mich, zu wem er gerade schaut, oder wie viele Personen jetzt zur Kaffeezeit bei ihm sitzen. Wahrscheinlich Kinder und Enkel, eine Ehefrau, und im Idealfall noch ein kleiner Hund. Ich muss seufzen. Mein Herz zieht sich für eine kurze, flüchtige Sekunde zusammen, und ein Gefühl der Sehnsucht übermannt mich. Ist es nicht das, wonach sich jeder Sehnt? Nach Menschen die man liebt, die einen auch lieben, mit denen man gerne Zeit verbringt, sei es nur für einen gemütlichen Nachmittag am Kaffeetisch, für wenige Stunden. Für manche nur ein flüchtiger Augenblick. Nicht, dass ich ganz schnell alt werden möchte, um gemütlich mit Mann und Hund am Kaffeetisch sitzen zu können. Aber einen Menschen bei sich zu haben, das wünscht sich wohl jeder, egal wie alt man ist.
Ich gehe weiter, gehe zu den Menschen, die ich gerne besuche. Auch wenn es nur ein paar Male im Jahr sind, für wenige Stunden. Auf die gemeinsame, kostbare Zeit kommt es doch drauf an...

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen